Explainable AI schlägt Brücke zwischen Nerds und Chemie- und Pharma-Ingenieuren

Künstliche Intelligenz für Nicht-Experten

Künstliche Intelligenz zählt zu den grössten aktuellen Chancen für die Chemie- und Pharmabranche. Denn nun können auch Nicht-Experten gewinnbringend damit umgehen – dank «Explainable AI» (explainable Artificial Intelligence). In der Chemie- und Pharmaindustrie sowie im Lebensmittel- und Biotech-Bereich gehen viele hochqualifizierte Mitarbeiter ans Werk. Es ist aber kein Naturgesetz, dass sie auch noch geborene IT- oder gar AI-Experten wären.

Hinter einem klugen Frau in der chemischen und pharmazeutischen Forschung
Hinter einem klugen Kopf in der chemischen und pharmazeutischen Forschung oder im Betrieb steckt immer häufiger auch eine Künstliche Intelligenz (artificial intelligence, AI). (Bild: Shutterstock)

Diagnosestark in Medizin und Prozessindustrie

Künstliche Intelligenz arbeitet zurzeit vor allem dort effizient, wo sie mit vielen Bildern trainiert wird und Muster wiedererkennt. So kann sie einen Chemiker bei der Auswertung von Spektren zuweilen in der Treffsicherheit, mindestens aber in der Schnelligkeit übertreffen. Im medizinischen Bereich kennt man diese Stärken von Röntgenbildern: Bilderkennungssoftware liest viel aus ihnen heraus. Sie liefert zwar noch nicht die Diagnose, denn hier bleibt die ärztliche Erfahrung wichtig, und auch rechtliche Gründen (Verantwortungsübernahme) stehen einer Entscheidung direkt durch die AI entgegen. Aber die gute Vorauswertung kann dem Röntgenologen eine Menge Zeit sparen.

Bei Bilderkennung und Bildinterpretation spielt Künstliche Intelligenz ihre Stärken aus – zum Beispiel bei der Auswertung von IR-Spektren …(Bild: Shutterstock)
… von Röntgenbildern. Chemiker und Ärzte können auf der Vorarbeit durch die Künstliche Intelligenz aufbauen und viel Zeit sparen. (Bild: Shutterstock)

Ähnlich verhält es sich mit der Diagnose von Prozessen und möglichen Abweichungen in der Pharma- und Chemieindustrie. Das Pharmaunternehmen Roche investiert nach eigener Aussage stark in den Ausbau digitaler Chemie- und Pharma-Prozesse in der Schweiz. Dabei arbeiten Plattform-Architekten (IT-seitig) und Domain-Experten (Prozessingenieure) in einem Team und fungieren als «Übersetzer» zwischen den verschiedenen Bereichen. Doch bleibt die Analyse von vielen Daten für Nicht-Informatiker nach wie vor ein Stückweit eine «Black-box». An dieser Stelle setzt «Explainable AI» an.

In der traditionellen Ursachenanalyse von Prozessabweichungen geschieht Folgendes: ein Team von Datenwissenschaftlern schaut sich die vorhandenen Daten genau an und testen verschiedene Hypothesen für die Abweichung. Dies kann drei bis vier Wochen in Anspruch nehmen, doch mit Hilfe von Explainable AI lässt sich die Analyse auf ein paar Stunden reduzieren.

Der Trick: Explainable AI ermöglicht es einem Prozessingenieur, der zwar über ein gutes technisches Verständnis und Verständnis für Statistik verfügt, aber keine dedizierte Ausbildung im Programmieren hat, künstliche Intelligenz zu nutzen. Er gewinnt neue Einsichten über die Parameter bzw. Einstellungen im Prozess. Daraus leitet er notwendige Anpassungen ab und findet eine verbesserte Konstellation von Set-ups (z.B. Druck, Temperatur, Geschwindigkeit, Materialeigenschaften).

Abweichungen beheben – Prozesse optimieren

Auf diese Weise kann der Prozessingenieur Probleme mit Abweichungen unter AI-Nutzung beheben. Doch die Möglichkeiten sind grösser! Warum sollten sich nicht aus den gewonnenen Einsichten neue Tools für eine Prozessanalytik entwickeln lassen, die vorausschauend Massnahmen initiiert («predictive analytics»)? Beispielsweise so: Ist für die Temperatur ein Schwellenwert x erreicht, werden automatisch im Dominoeffekt Temperatursenkungs-Mechanismen in Gang gesetzt. Der Prozess bleibt in der Balance.

Für die Programmierung solcher Kaskaden von Gegenmassnahmen gibt es auch schon sogenannte Self-service-Apps. Für ihre erfolgreiche Nutzung stellen allerdings standardisierte Datensätze eine Voraussetzung dar.

Eine Bereitstellung von Messwerten aus dem Prozess, zum Beispiel von Temperaturverläufen über die Zeit, von vibrationsanalytischen Daten zur Maschinendiagnose u.v.m. würde daher der Nutzung von Künstlicher Intelligenz in Form von Explainable AI einen Schub geben. Wie weit der tragen könnte, wird klar, sobald man sich Folgendes vergegenwärtigt: Das Ziel ist in der Regel nicht (nur) die Problembehebung, sondern darüber hinaus die kontinuierliche Verbesserung von Prozessen.

Innovation kommt schneller in die kommerzielle Produktion

Selbst ein Scale-up von der Produktentwicklung im Labor und einer experimentellen Herstellung im Kleinstmassstab auf kommerzielle Produktion könnte mit Hilfe von Explainable AI viel schneller vonstattengehen als bisher. Zwar steht man bei Roche dabei noch am Anfang, so dass quantitative Aussagen nicht möglich sind. Aber die neue Arbeitsweise ist schon vorgezeichnet: Als digitale Repräsentanz für das neue Produkt und seine Fertigung erstellt man einen sogenannten «Digitalen Zwilling». Die hochvolumige kommerzielle Produktion existiert dabei zunächst nur virtuell, während für die Kleinstproduktion und später für das Technikum auch schon reale Werte vorliegen. Diese lassen sich aber nun durch Erfahrungswerte aus der bestehenden Fertigung vergleichbarer Produkte anreichern. Entscheidend ist einmal mehr die Reduzierung der Komplexität des Programmierens inmitten virtueller Welten: Bei Vorliegen standardisierter Datensätze kann der Ingenieur die Vorteile Künstlicher Intelligenz nutzen. Er arbeitet mit Apps, die ihm die Welt der Digitalen Zwillinge in die Welt der Chemie- und Pharma-Prozesse übersetzen helfen.

«Explainable AI» bringt IT-Spezialisten mit Chemie- und Pharmaingenieuren zusammen und ermöglicht diesen über geeignete Apps selbständige Programmiererfolge – auch ohne spezielles IT-Know-how. (Bild: Shutterstock)

Intelligente Rückwärtssynthese für sechsstufige Reaktionen

Schon bei der Rückwärtssynthese vor den ersten Laborexperimenten hilft die Reduzierung von Komplexität. Sie kann auf den Input des gewünschten Produkts die benötigten Ausgangssubstanzen benennen – jetzt sogar für bis zu sechsstufige Reaktionen1.

Bisher scheiterten die im Prinzip funktionierenden quantenmechanischen Ab-initio-Vorhersagen in der Praxis an der schieren Vielzahl der möglichen Synthesewege («kombinatorische Explosion»). Es ist wie bei der Berechnung eines Poker-Spiels: Es gibt so viele Möglichkeiten, dass man mit der Rechenkapazität nicht hinterherkommt oder die Kalkulation einfach zu teuer wird.

Im Falle der Rückwärtssynthese konnten Forscher aber jetzt mit Zusatzinformationen aus der Reaktionskinetik die überbordende Fülle von Synthesepfaden einhegen können2. Damit wird Künstliche Intelligenz für die Reaktionsplanung zugänglich – schon bevor der erste Rundkolben im Labor eingespannt worden ist.

Die Zukunft von Pharma- und Chemieproduktionen: Modelle des industriellen Prozesses werden als digitale Zweifachmodelle abgebildet («digital twin») und zunächst virtuell optimiert – Umsetzung in den realen Betrieb folgt. (Bild: Shutterstock)

Die ganze Bandbreite der Fortschritte der Künstlichen Intelligenz und ihrer Anwendung in der betrieblichen Praxis erlebt der Besucher auf der diesjährigen Ilmac.

Literatur: 1. https://www.chemie.de/news/1175809/vorhersage-mehrstufiger-chemischer-reaktionen-durch-rueckspulen.html?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=chemde&WT.mc_id=ca0259 (Zugriff am 28.5.2022) 2. Yosuke Sumiya, Yu Harabuchi, Yuuya Nagata, Satoshi Maeda: Quantum Chemical Calculations to Trace Back Reaction Paths for the Prediction of Reactants. JACS Au 2022, 2, 5, 1181–1188. https://doi.org/10.1021/jacsau.2c00157